Champignon: Im allgemeinen Sprachgebrauch werden als Pilze nur die sichtbaren Fruchtkörper bezeichnet. Der eigentliche Pilz ist jedoch das feine, meist unsichtbare Geflecht aus Hyphen im Boden. Pilzmyzele können eine Größe von über einem Quadratkilometer und ein hohes Alter erreichen.
Menschen nutzen zur Beschreibung von Prozessen des Denkens und des Bewusstseins gern Metaphern aus zeitgenössischen technischen Entwicklungen. Dabei bleibt offen, ob die technische Entwicklung eine Folge des aktuellen Denkhorizontes ist oder umgekehrt: Ob der Mensch als hauptsächlich technisch begabtes Wesen versucht, aus seinen jeweiligen Schöpfungen die Struktur des eigenen Bewusstseins zu erkennen.
Heute bedienen sich Beschreibungen des Denkens oft an Metaphern aus der Welt des Computers und der Datenverarbeitung. Beispielsweise wird die tägliche Erweckung des Bewusstseins analog zum Start eines Rechners vorstellbar:
Nach dem initialen Weckimpuls fragt das Rückenmark (Bios) die eingehenden Nervenmeldungen ab und kategorisiert die Ergebnisse. Die Veränderungen durch Körperbewegungen legen eine Differenzierung in Innen- und Außenwelt nahe. Es entsteht die Wahrnehmung der Körperhülle. Der Grundstein zur Selbsterkenntnis ist gelegt.
Nach und nach schaltet das Bios bereitstehende Gedächtnisprogramme ein, die aus den abgespeicherten Daten das Ichbewusstsein komponieren und am Ende des Systemstarts weiß ich es dann wieder: Ich bin der Eine, der nun aufsteht, der anschließend frühstückt und dann zur Arbeit fährt. Ich habe nun mein Wissen, meine emotionalen und moralischen Leitlinien und Handlungsmuster wieder zur Verfügung und bin voll funktionsfähig, um die Körperhülle vor Zerstörung zu schützen.
Doch wir haben unsere technische Umgebung bereits weiterentwickelt. Obwohl wir noch mit individuell konfigurierten Computern arbeiten, bildet die Vernetzungsstruktur des Internet bereits das eigentliche Rückgrat unserer technischen Umgebung. Und dieses Netz bietet eine andere Qualität als die reine Summe seiner Knotenpunkte.
Das bringt mich auf ein anderes Bild: Was, wenn das Individuum, der Einzelmensch nur das Organ eines weit größeren, umfänglicheren Organismus wäre – der Gesamtheit aller Menschen, der gegenwärtigen, der vergangenen und der kommenden.
Die Menschheit ist hier ein vernetzter „immaterieller” Organismus, dessen Wesen und Existenz analog zum Internet als „Riesenmaschine” wesentlich in der Vernetzungsstruktur selbst bestünde. Ohne Individuen gäbe es kein Individualbewusstsein sondern ein Gesamtbewusstsein. Und der Organismus Mensch gehörte dann zu einem völlig anderen Reich als dem biologisch zu beschreibenden.
Mir scheint diese Vorstellung liebenswert: Ein vereinzelter Mensch ist kaum lebensfähig, geschweige denn in sinnvoller Existenz. Mensch existiert in und aus einer komplexen Kultur, durch Sprache und Schrift eng verbunden mit zeitgenössischen, früheren und späteren Menschen. Und manche Geistesphänomene wie zum Beispiel die Gedankenübertragung bei den australischen Aborigines oder auch weitverbreitete Vorstellungen von Reinkarnation und Seelenwanderung lassen sich in einer auf das Individuum beschränkten Bewusstseinsvorstellung schwer erklären.
Ich gebe zu, die Idee hat eine Schwachstelle, denn das Internet bringt die einzelnen Rechner, Satelliten, Leitungen und Informationen als Organe ja nicht hervor, sondern es ist genau umgekehrt, die Organe haben das System Internet erzeugt.
Doch die Vorstellung, nur ein Organ des Organismus „Menschheit” zu sein, bringt durchaus lohnende Erkenntnisse zur sinnvollen Gestaltung des Lebens hervor.
Abbildungen:
„Micelio y carpóforos de champiñón en un cultivo de Pradejón“ von Pradejoniensis – Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Micelio_y_carp%C3%B3foros_de_champi%C3%B1%C3%B3n_en_un_cultivo_de_Pradej%C3%B3n.jpg#mediaviewer/File:Micelio_y_carp%C3%B3foros_de_champi%C3%B1%C3%B3n_en_un_cultivo_de_Pradej%C3%B3n.jpg
„Juliadim2“ von Prokofiev – Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons – http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Juliadim2.png#mediaviewer/File:Juliadim2.png