Das morphogenetische Feld

Ende der 80er Jahre begegnete mir eine Idee. War es in der Taz? Es war die Theorie vom morphogenetischen oder morphischen Feld*:

Alles, was von Menschen hervorgebracht wird, erfährt in diesem Denkmodell eine Abbildung in einem „sphärischen” Feld, wird dadurch im Menschheitswissen verankert und führt zur kontinuierlichen Entwicklung geistiger und zivilisatorischer Fähigkeiten, indem es quasi erblich in gemeinschaftliches Wissen eingeht. Weltweit!

Das sollte erklären, warum für vereinzelt und stets unbeachtet auftretende Ideen plötzlich „die Zeit reif” ist und sie dann breite Akzeptanz finden.

Ein anschauliches Beispiel für die Notwendigkeit einer solchen Erklärung war mir kurz zuvor aufgefallen: der Sommerhit des Jahres wurde gleichzeitig in großen Teilen Europas gespielt.

Wie konnte eine so kurzlebige, unbedeutende Erscheinung wie ein Sommerhit so weitverbreitet Gehör finden? Das konnte doch nicht allein durch Reisende geschehen sein und die heute weltumspannende Unterhaltungsindustrie steckte damals noch in den Kinderschuhen.

Das waren frostige Wintertage, die Luft war kalt und kristallklar und das Gebell der Nachbarhunde hallte weithin über das Gelände. Ein sphärisches Feld schien mir in dieser Stimmung zwar nicht ausgeschlossen, aber doch etwas unphysikalisch.

Kurz und gut: Eine plausible Erklärung für das „Sommerhit-Phänomen” schien mir weniger sphärisch und erblich zu sein, sondern könnte eine unbewusste Beeinflussung großer Massen durch weitverbreitet ausgestrahlte, wenn auch meist „ungehörte” Radiosendungen zu sein.

Hatten wir vielleicht ganz unbewusst einen körperlichen Sinn für den Radioempfang entwickelt?

Ich hatte bis dahin schon viel Zeit mit durchgängiger Radio- oder Fernsehbeschallung verbracht, es schien mir nicht ausgeschlossen, die Entschlüsselung der codierten Wellen dabei unbewusst erlernt zu haben: Die Haut als Empfangsorgan wäre die Antenne, die für den Lernprozess zur Entschlüsselung dieser Wellen notwendige parallele Übersetzung in Sprache und Ton erfolgte durch das Zuhören am Radio.

In der Folge eines solchen Lernprozesses könnten also auch „ungehörte” Botschaften ein Teil allgemeinen Gedankengutes geworden sein und damit die gleiche Wirkung erzielen wie das fragwürdige „morphische Feld”?

Vom Radiohören zur „Augmented Reality”

Gerade erst standen wir vor einer weiteren, diesmal optisch technisch-codierten Informationsübertragung: dem QR-Code. Bei diesen schwarz-weiß karierten Informationsquadraten wird die Botschaft mit dem Smartphone entschlüsselt. Die kulturell verwertbare Zielinformation steckt jedoch nicht im Code sondern ist in der Regel nur eine URL, die den Nutzer dann zur eigentlich gewollten Information hinführt.

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Wir werden die Decodierung dieser QR-Codes deshalb nicht so einfach erlernen können und müssen sie wohl auch in Zukunft Lesemaschinen überlassen.

Aber auch der nächste Schritt technisch unterstützter Informationsweitergabe hat nicht auf sich warten lassen:

Augmented Reality (angereicherte Realität) ist das Schlagwort für die Vermischung von optischer Realität mit zugespeistem Inhalt aus dem Internet. Dabei kann jede beliebige, auch natürliche Form als Informationsauslöser verwendet werden – das Lesegerät „sieht” die Form im Kamerabild und ruft die Ergänzung online zusätzlich auf: Mit dem neuen Augenvorsatz „Google-Glasses” entsteht dabei eine vollständig vermischte Welt aus virtual und reality.

Schade, dass unsere Zivilisationswelt und kulturelle Entwicklung nun für immer von Maschinen abhängig sein wird und damit abgelöst sein wird von unserem körperlichen Welterleben.

Ich halte es für unwahrscheinlich, das uns die Entschlüsselung einer solcherart gemorphten Realität jemals in die Gene übergehen wird.

* Als morphisches Feld (engl. „morphic field“), ursprünglich auch als morphogenetisches Feld, bezeichnete der britische Biologe Rupert Sheldrake in den 20er Jahren ein hypothetisches Feld, das als „formbildende Verursachung“ für die Entwicklung von Strukturen sowohl in der Biologie, Physik, Chemie, aber auch in der Gesellschaft verantwortlich sein soll. Von der der Naturwissenschaft wird die Hypothese als pseudowissenschaftlich eingestuft, dennoch wird die wissenschaftliche Überprüfung der Hypothese in Einzelfällen gefordert. Auch Vertreter der Sozialwissenschaften haben die Hypothese ernsthaft diskutiert.

In den Sozialwissenschaften (und aus dieser Diskussion stammten sicher die von mir erinnerten Zeitungsberichte) wird die Theorie der morphischen Felder darüber hinaus im Kontext der raumbezogenen Gesellschaftsanalyse (rural sociology) durch den US-amerikanischen Soziologen Michael Mayerfeld Bell rezipiert. Er geht davon aus, dass Personen, die dauerhaft an einem Ort präsent waren, diesem Ort ihren „Geist“ („Ghost of Place“) im Sinne einer „Atmosphäre“ oder „Aura“ hinterlassen und dadurch Handlungen, Gedanken und Intuitionen Dritter hervorrufen, die sich später an diesem Ort aufhalten.

Abbildung: By Patrick J. Lynch, medical illustrator (Patrick J. Lynch, medical illustrator) [CC BY 2.5 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.5)%5D, via Wikimedia Commons