Wer lügt, muss auch töten.

Gestern habe ich ferngesehen. Welcher Film dabei lief, ist nicht interessant. Spannend dagegen ist die gezeigte Variante des Scheiterns: Der Held verirrt sich gleich zu Beginn um eines kleinen Vorteils willen in eine Lüge. Im Laufe der Handlung verstrickt er sich in dieser Lüge, errichtet ein kompliziertes Lügengebäude und muss zur Aufrechterhaltung des Lügengebildes schließlich töten.

Die Moral ist so einfach wie die Geschichte: Fängt man erst einmal mit einer Lüge an, verliert man schnell die Kontrolle über seine Handlungen und stolpert von Notlösung zu Notlösung bis man sich vollständig zum Sklaven des Zufalls gemacht hat. Eine unaufhaltsame Kaskade zum Unglück – persönlich und für andere!

Doch was ist denn eigentlich lügen? Das ist doch wohl, wenn jemand nicht die Wahrheit sagt. Und die Wahrheit? Darüber gibt es nach wie vor Philosophenstreit. Bleibt also der pragmatische Rückzug auf die Postion, dass Lügen ein vorsätzliches gesellschaftliches Tun ist ist: Wenn jemand nicht die Wahrheit desjenigen sagt, den er verkörpert, dann lügt er.

Denn spätestens seit den 50er Jahren hat uns die Soziologie mit Erving Goffman die Augen geöffnet: Der Mensch spielt eine komplexe Choreografie aus Rollen. Die Rollen resultieren aus dem Zusammenspiel gesellschaftlicher Erwartungen und weisen entsprechend ein großes Repertoire an Wahrheiten auf.

„Fragen Sie mich als Politiker oder als Mensch?” zeigt, dass die Wahrheit des Politikers für den Menschen eine Lüge sein kann. Und dass derartige Aussagen kein sprachliches Paradoxon darstellen, sondern Bestandteil eines sehr bewussten Spiels mit Standpunkten, den daraus resultierenden Wahrheiten und eben der Lüge sind.

Die Wahrheit eines Menschen kann nicht nur für andere Menschen Lüge sein, sondern es lassen sich verschiedene Wahrheiten konfliktfrei vereinbaren – in einer einzigen Person. Die Lüge kann hier nur noch innerhalb einer gemeinsam festgelegten gesellschaftlichen Rolle stattfinden: Ein Mensch kann zum Beispiel in seiner Rolle als Politiker lügen.

Nun bin ich jedoch auch vom Glauben an einen Schöpfer abgefallen und habe mir damit nicht nur den Glauben an die eine grundlegende Wahrheit verbaut.

Ich halte eine Existenz im Multiversum für wahrscheinlicher als die Existenz eines einzigen Universums. Ich glaube nicht an Anfang und Ende, denn dann müsste mir der Sinn des Seins erklärlich sein. Auch die Idee einer unsterblich beseelten Existenz überzeugt mich nicht.

Stattdessen vertrete ich die Ichvorstellung einer zufälligen, im Austausch mit der Umwelt befindlichen Körperhülle, die ganz pragmatisch versucht, ihre Existenz zu schützen und die im individuellen Bewusstsein ein wirkungsvolles Hilfsmittel dafür findet. Mit anderen Worten: Es gibt gar kein Ich. Das Ichbewusstsein ist nichts weiter als eine hilfreiche „Denkmechanik”, die schnelle Reaktion auf körperhüllenschädigende Einflüsse ermöglicht.

Doch was wäre dann Lüge? In einer grundsätzlichen „unbesinnten” Existenz, die ohne Ich und ohne Wahrheit auskommt?

Wahrscheinlich ist es dann doch wieder die gesellschaftliche Rolle – nur hier etwas spielerischer gefärbt – die den Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit bestimmt, denn die Fähigkeit, große Gesellschaften mit komplexer Kommunikation zu bilden, ist ein weiterer, unbestreitbar mächtiger „Überlebensmsukel” des Menschen.

Einen Vorteil scheint meine Weltsicht jedoch mitzubringen: Ohne Ich muss ich nicht töten, um meine Identität zu bewahren.

Den eingangs erwähnten Film habe ich irgendwann abgeschaltet.
Über das Ende kann ich deshalb leider nichts erzählen.

Abbildung: von White House (Pete Souza) / Maison Blanche (Pete Souza) [Public domain], via Wikimedia Commons