Das Sterben meiner Mutter begann mit einer schlichten Diagnose. Fortschreitende Demenz, wahrscheinlich Alzheimer. Da wußte sie noch, wer sie war, erkannte mich, meine Schwestern und die Nachbarn. Nur die Schlüssel in ihrer Hand waren ihr plötzlich fremd.
Der Mantel an der Garderobe wurde zu einem fremden Mann, der sich dort erhängt hatte, die Menschen aus der Fernseh-Talkshow waren unerlaubt in ihr Wohnzimmer eingedrungen. Zu dieser Welt hatten wir nur noch Zugang, wenn wir uns auf ihre Wahrnehmung einließen. Wir konnten noch teilnehmen an ihrem Weltverlust, der sie in lichten Momenten selbst am meisten quälte.
Das ist die erste Phase, sagte man uns, danach kommt die zweite, die Glücksphase. Da gebe es keine Verluste mehr, da sei dann alles möglich. Tatsächlich verschwammen Phantasie und Wirklichkeit zu einem meist unbedrohlichen Neuen, das allerdings nur Bestand hatte, wenn man nicht daran rüttelte. Warum-Fragen waren hier zerstörerisch. Diese Phase war entgegen der Prognosen sehr kurz, dann kam vehement und unerwartet, schließlich war sie erst 65, der physische Verfall.
Erst war es nur die Mobilität. Sie vergaß einfach ein Bein vors andere zu setzen und stürzte immer wieder schwer. Sie wurde fixiert, an einen Sessel, lief mühsam am Arm der Bewegungstherapeutin und litt. Weil sie nicht verstand, was mit ihr geschah. Die Zeit in der rationale Erklärungen geholfen hatten, war unwiederbringlich vorbei. Aber auch hier konnten wir noch teilhaben, konnten beruhigen, ablenken, dem getriebenen, immobilen Ich ein wenig Lebensqualität verschaffen.
Und so gingen die Jahre dahin in denen sie immer weniger wurde, weniger Widerstand leistete und weniger Aufmerksamkeit erwartete. Bis sie nichtmal mehr sitzen konnte, im Bett lag und einfach nur noch da war. Von der äußeren Wirklichkeit hatte sie sich so weit zurückgezogen, dass jede Konfrontation mit ihr zu einem tiefen Schrecken führte. Immer dann, wenn sie aus dem apathischen Dämmerzustand, in dem sie ihre Tage nun verbrachte, herausgerissen wurde, wenn man ihre Hand nahm, sie ansprach, oder leicht über die Haare strich, riss sie wie ein verängstigtes Tier die Augen auf, klammerte sich an die Bettdecke, so dass die Fingerknöchel weiß hervortraten, und begann hektisch zu atmen. Dreimal am Tag musste dies passieren, denn sie nahm weiterhin feste Nahrung zu sich, eine Boullion und eine halbe Scheibe Toast. Jedesmal wenn ich ihr Zimmer verließ, war ich mir sicher, das dauert nun nicht mehr lange. Aber da irrte ich mich. Jedesmal.
Es braucht nicht viel, um zu überleben. Sie lebte noch einige Jahre so. Getrennt von allem, was einmal ihr Leben gewesen war, aber noch lange nicht tot. Oft haben wir in dieser Zeit über Sterbehilfe gesprochen, darüber was uns möglich wäre und was gesetzlich verboten war.
Als wir dann endlich an ihrem Grab standen und Abschied nahmen, waren wir alle gedanklich in einer Zeit davor, als sie noch unsere Mutter war. So unvorstellbar waren die vielen 1000 Stunden in denen sie nicht sterben konnte, einfach weil ihr Herz unermüdlich weiter schlug.